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Versagen und Mut ­
Zum Umgang der Justiz mit ihrer NS-Vergangenheit"
Rede des Niedersächsischen Justizministers Prof. Dr. Christian Pfeiffer
am 10. September 2002 anlässlich der Eröffnung der Ausstellung
Justiz im Nationalsozialismus ­
Über Verbrechen im Namen des Deutschen Volkes" in Berlin
Anrede,
es gibt in Berlin viele Ausstellungen und Gedenkstätten, die sich mit unserer natio-
nalsozialistischen Vergangenheit auseinander setzen. Ich nenne nur die Topographie
des Terrors und das Haus der Wannsee-Konferenz, die Gedenkstätte Deutscher Wi-
derstand und bald, direkt nebenan, das Mahnmal für die Opfer des Holocaust. Be-
steht bei derart vielfältigen Bemühungen, an den Terror des Dritten Reiches zu erin-
nern, überhaupt Bedarf für den Versuch, den wir heute hier unternehmen wollen? Ist
nicht schon alles gesagt und aufgezeigt? Was bringt es, den Blick ein weiteres Mal
zurückzurichten?
Zu dieser Frage konnte ich zufällig am vergangenen Sonnabend ein interessantes
Gespräch führen. Mit einem jungen SPD-Mitglied hatte ich am Telefon über einen
Wahlkampftermin gesprochen. Danach wollte er noch wissen, was ich denn am Wo-
chenende so machen würde. Als ich ihm dann berichtete, dass ich unter anderem
meine Rede für die Eröffnung der Ausstellung Justiz im Nationalsozialismus" über-
arbeiten möchte, weil wir damit nun nach Berlin gehen würden, stellte er folgende
Frage:
Mal ehrlich, wäre es nicht besser, endlich über das alles Gras wachsen zu lassen?
Würde sich das Verhältnis mit dem Juden in Deutschland heute nicht viel unproble-
matischer, unverkrampfter und harmonischer entwickeln, wenn wir nicht ständig in
den alten Geschichten herumwühlen würden?" Wohl gemerkt, das sind die Fragen
eines jungen Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft, der in keiner Weise An-
lass zu der Vermutung gibt, er sei heimlich ein Antisemit. Und was habe ich ihm ge-

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antwortet? Ich habe ihm zunächst aus einem Brief vorgelesen, den ich zur Vorberei-
tung meiner heutigen Rede schon auf dem Schreibtisch liegen hatte. Dazu kurz die
Vorgeschichte des Briefes.
In Langenhagen bei Hannover hatten vor gut einem Jahr Skinheads Ausländer
überfallen. Daraufhin hatten junge Menschen dieser Kleinstadt zu einer Aktion gegen
Rechts aufgerufen. Es gab eine Demonstration, die beachtliche Medienresonanz er-
zielte. Die jungen Leute organisierten eine gut besuchte Vortragsveranstaltung und
Aktionen an Schulen und dem örtlichen Jugendzentrum. Dank der breiten Berichter-
stattung in den Medien konnten sie überzeugend demonstrieren, dass die ganz
überwiegende Mehrheit in der Stadt anders denkt und dass sie nicht gewillt ist, dem
Treiben der Skinheads passiv zuzusehen. Dann jedoch geschah etwas, was gera-
dezu schockartig bewusst machte, dass wir es auf der anderen Seite nicht nur mit
grölenden angetrunkenen Neonazis zu tun haben. Die Sprecherin der Aktion gegen
Rechts, eine 22 Jahre alte Studentin mit dem jüdisch klingenden Vornamen Sarah,
bekam folgenden Brief:
Hallo, du jüdische Affenfotze, sieh an, sieh an, die Juden aus Langenhagen
kriechen aus ihren Löchern. Den rechten Gruppen sei Dank. Seit ein paar Ta-
gen beobachte ich dich und weiß jetzt, wo du wohnst. Ich stelle mir schon vor,
wie es wird, wenn ich dich packe. Ich werde dir deine Judenfotze bis zum An-
schlag aufreißen und in dein offen liegendes Gedärm pissen. Natürlich wirst
du mit diesem Wisch zur Polizei rennen und um Personenschutz winseln.
Aber wenn es so weit ist, kriege ich dich trotzdem Ich gehöre nicht zu den
Glatzen. Ich bin deutscher Bürger. Noch sind wir zu wenige. Aber wir hassen
euch Judengezücht wie die Pest. Klammheimlich werden wir vollenden, was
Hitler versagt blieb. Die Namensliste von Langenhagen ist bald vollständig. Du
wirst die Erste sein. Also, jüdische Affenfotze, der Krieg ist eröffnet. Psycho-
path? Du wirst dich wundern. Schlaf gut. Heil Hitler!"
Mit dem Brief konnte ich meinem Gesprächspartner eines nachdrücklich klar ma-
chen. Antisemitismus gibt es auch heute. Und dies in ganz unterschiedlichen For-
men. Es gib ihn als tief verwurzelten Hass in einer kleinen Minderheit. Es gibt ihn
aber auch als latentes Grundgefühl und Vorurteil bei vielen Menschen. Das gilt ge-

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rade auch für Jugendliche. Dies hat beispielsweise eine Repräsentativbefragung ge-
zeigt, die im Jahr 1999 von Dr. Sturzbecher, einem sehr kompetenten ostdeutschen
Sozialwissenschaftler mit Jugendlichen in Brandenburg und Nordrhein-Westfalen
durchgeführt worden ist. Er wollte beispielsweise wissen, ob die Jugendlichen es ak-
zeptieren würden, in der Schule neben einem jüdischen Mitschüler zu setzen, ob sie
einen jüdischen Mitschüler auch mal nach Hause mitnehmen würden oder ob sie mit
einem jüdischen Mädchen bzw. Jungen in einer Disko tanzen würden. Auffallend wa-
ren hier vor allem die Antworten der männlichen Jugendlichen aus Brandenburg. 31
% von ihnen wollten auf keinen Fall neben einem jüdischen Banknachbarn sitzen. 37
% würden so einen Klassenkollegen nicht mit nach Hause nehmen und 39 % lehnten
es entschieden ab, mit einem jüdischen Mädchen zu tanzen.
In Nordrhein-Westfalen lag der Prozentsatz der männlichen Jugendlichen, die anti-
semitische Vorurteile zum Ausdruck brachten, zwar mit 8 bis 10 % deutlich niedriger.
Aber beruhigen kann uns das nicht. Denn in Bezug auf erwachsene Deutsche offen-
bart eine kürzlich von Prof. Brehler (Universität Leipzig) durchgeführte Repräsenta-
tivbefragung gerade in Bezug auf Westdeutschland deutlich höhere Werte des la-
tenten Antisemitismus. 14 % würden beispielsweise nur sehr ungern einen Juden
zum Nachbarn haben. Und 22 % stimmten der Aussage zu, Juden würden mehr als
andere Menschen mit Tricks arbeiten, um sich durchzusetzen.
Die Aktualität dieses Themas ist uns allen im Frühjahr dieses Jahres bewusst gewor-
den, als Jürgen Möllemann mit seinen provokativen Äußerungen über die Nahostpo-
litik und den stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden Michel Fried-
mann auf Stimmenfang am rechten Rand des Wählerspektrums ging. Er löste damit
etwas aus, was er selbst möglicherweise nicht in Gänze vorausahnte, für das er aber
nichts desto weniger persönlich mitverantwortlich ist. Möllemann selber wurde von-
seiten der Rechtsextremen geradezu überschüttet mit Solidaritätsbekundungen und
Artikeln in der rechten Presse, die ihm Beifall spendeten. Und gleichzeitig erhielten
jüdische Prominente eine Flut von Droh- und Schmähbriefen, deren Quantität und
Schärfe das deutlich überstieg, was sie früher zu ertragen hatten.
Dabei müssen wir eines beachten: Solche antisemitischen Grundeinstellungen
schlagen sich ja keineswegs nur bei Umfragen nieder oder in anonymen Briefen. An-

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tisemitismus geht einher mit Fremdenfeindlichkeit, und beides aktualisiert sich in Ta-
ten, zum Beispiel in Sachbeschädigungen von jüdischen Friedhöfen, in Angriffen auf
Asylbewerberheime oder in Tätlichkeiten bis hin zu Tötungsdelikten gegen Men-
schen, die wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit als rassisch minderwertig angese-
hen werden. Frank Jansen vom Tagesspiegel Berlin und Kollegen aus anderen Zei-
tungen haben im Sommer 2000 aufgedeckt, dass die Zahl der getöteten Opfer
rechtsextremer Gewalt, die es seit Anfang der 90-er Jahre in Deutschland gegeben
hat, mit über 90 etwa viermal höher liegt als das, was der Staat bis dahin veröffent-
licht hatte. Wir haben wirklich allen Anlass, uns in diesem Land mit der Frage ausei-
nanderzusetzen, wie Antisemitismus und Fremdenhass entstehen und wie es kommt,
dass sie immer wieder in brutalen Gewalttaten Ausdruck finden.
Ein Weg hierzu ist der der Aufklärung über das, was die Nationalsozialisten in
Deutschland angerichtet haben. Richard von Weizsäcker hat in seiner denkwürdigen
Ansprache zum 40. Jahrestag des Kriegsendes angemahnt: Wer vor der Vergan-
genheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Un-
menschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsge-
fahren."
Dieser Appell unseres früheren Bundespräsidenten ist nicht ungehört geblieben. In
Niedersachsen hat beispielsweise dazu beigetragen, dass man Anfang der 90-er
Jahre damit begonnen hat, zur Justiz im Nationalsozialismus Material zusammenzu-
tragen und zunächst in einer Gedenkstätte der JVA Wolfenbüttel eine Ausstellung zu
organisieren. Dies mündete später in die Wanderausstellung, die wir nun heute hier
in Berlin präsentieren.
Worin liegt nun ­ kurz zusammengefasst ­ das dramatische Versagen der Justiz vor
1945? Besonders auffallend ist hier das Wirken der Strafjustiz im NS-Staat. Sie fällte
in der Zeit von 1933 bis 1945 nicht weniger als 16.000 Todesurteile. Hinzu kamen
fast 20.000 weitere Todesstrafen, die von der Wehrmachtsgerichtsbarkeit und in den
letzten Kriegsmonaten von Standgerichten verhängt wurden. Nur zum Vergleich: Im
faschistischen Italien wurden in der gleichen Zeit wenige als 100 Menschen hinge-
richtet.

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Noch bis in die 80-er Jahre hinein hat man diese erschütternden Zahlen nicht selten
damit bemäntelt, dass die Justiz hier Werkzeug der nationalsozialistischen Gesetz-
gebung gewesen sei. Aber bei genauer Betrachtung entlarvt sich schnell ein anderes
Bild. Zwar ist es richtig, dass die Nationalsozialisten nach der Machtergreifung und
erst recht nach Kriegsbeginn die Zahl der Tatbestände beträchtlich erweitert hatten,
in denen die Todesstrafe vorgesehen ist. Aber bei den meisten Fällen hatten die
Strafrichter nach wie vor einen Entscheidungsspielraum. Und außerdem waren die
Tatbestände bewusst so vage gefasst, dass eine große Bandbreite von Handlungen
darunter subsumiert werden konnte. Dies bedeutete auch die Möglichkeit, den Ent-
scheidungsspielraum zugunsten des Angeklagten zu nutzen. Und dies geschah eben
meist nicht.
Wer vor diesem Hintergrund Todesurteile von NS-Sondergerichten, Kriegsgerichten
oder gar des Volksgerichtshofes eingehender liest, findet rasch die frühere These
widerlegt, hier habe sich die Justiz einem verbrecherischen System widerwillig ge-
beugt, unpolitisch und formal korrekt agiert. Stattdessen erweist sie sich in ihrer
Mehrheit als willige Handlangerin des Systems, die Unrechtsnormen nicht nur exzes-
siv anwandte, sondern teilweise in vorauseilendem Gehorsam bzw. aus eigenem
Antrieb über sie hinausging.
Ein Beispiel ist das Todesurteil gegen den Vorsteher der Jüdischen Kultusgemeinde
in Nürnberg, Leo Katzenberger, wegen sogenannter Rassenschande. Der 67-jährige
Katzenberger war wegen eines angeblichen Liebesverhältnisses mit seiner 30-jähri-
gen Nachbarin Irene Seiler denunziert worden, wurde daraufhin verhaftet und wegen
Verstoß gegen das Blutschutzgesetz von 1935 und die sogenannte Volksschädlings-
verordnung von 1939 vor dem Sondergericht Nürnberg angeklagt.
Zu der Verhandlung, die am 13. und 14. März 1942 im Großen Sitzungssaal des
Nürnberger Justizpalastes stattfand, wurde die lokale Parteiprominenz und Wehr-
machtsvertreter eingeladen. Ebenso saßen der Präsident des Oberlandesgerichts
und der Generalstaatsanwalt im überfüllten Zuschauerraum, um die Aufklärung des
Rassenschandeverbrechens zu erleben.
Obwohl Irene Seiler, deren Ehemann sich im Krieg befand, unter Eid ein körperliches
Liebesverhältnis mit Leo Katzenberger ausschloss und ihn als einen väterlichen

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Freund bezeichnete, beantragte Staatsanwalt Markl am Ende der Beweisaufnahme
wegen erwiesenen Beischlafs die Todesstrafe. Die Richter folgten diesem Antrag.
In dem von Dr. Karl Ferber formulierten Urteil hieß es: Die Rassenschande im Ver-
kehr des Juden mit einer deutschen Frau schändet die deutsche Rasse, stellt einen
schweren Angriff auf die Reinheit des deutschen Blutes im rasseschändenden Angriff
auf die deutsche Frau dar... Katzenberger kannte den Standpunkt des völkisch emp-
findenden deutschen Menschen in der Rassenfrage genau, er war sich bewusst,
dass er mit seinem Verhalten dem völkischen Empfinden des deutschen Volkes ins
Gesicht schlug. Weder die nationalsozialistische Revolution 1933 noch der Erlass
des Blutschutzgesetzes 1935, weder die Judenaktion 1938 noch der Kriegsausbruch
1939 bewirkten bei ihm seine Umkehr."
Das Urteil und die von der NS-Ideologie geprägte Rhetorik seiner Begründung zei-
gen, wie sehr sich große Teile der Justiz die Ziele der NS-Staats- und Parteiführung
zueigen gemacht hatten. Aber auch die anderen Angehörigen der Justiz, die nicht
unmittelbar an solchen Todesurteilen beteiligt waren, haben mitgespielt, haben sich
geduckt und im Sinne des Systems ganz überwiegend bestens funktioniert.
Was aber hat die Richter und Staatsanwälte dazu veranlasst, sich so zu verhalten
und ihre juristisch-technischen Fertigkeiten in den Dienst der Machthaber zu stellen?
Warum haben sie damit politische Maßnahmen bis hin zum Terror den Anstrich des
Legalen und Richtigen verliehen? Schließlich war es nur eine Minderheit unter ihnen,
die von Beginn an als glühende Anhänger Hitlers einzustufen war. Die Mehrheit ver-
schanzte sich schlicht hinter ihren Paragraphen und machte mit.
Bei der Suche nach Erklärungen für dieses angepasst-autoritätshörige Verhalten ist
zunächst zu beachten, dass der Berufsstand der Richter in alten obrigkeitsstaatlichen
Traditionen verankert war. Man funktionierte eben als unpolitische Experten für die
Auslegung und Anwendung von Gesetzen. In seiner Betrachtung der preußischen
Tugenden fragt sich Christian Graf von Krockow zu Recht, ob nicht die durch Gene-
rationen hindurch eingeübte Pflichterfüllung ohne Wenn und Aber hilflos und unfähig
zum Widerstand gemacht hat, als der Staat nicht mehr anständig, sondern von Ver-
brechern regiert wurde. Hinzu kommt, dass auch nach der Machtergreifung der Nati-

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onalsozialisten die gewohnten Gerichtsstrukturen und die traditionellen juristischen
Handlungsmuster und Argumentationstechniken weitgehend beibehalten blieben.
Das erweckte sowohl innerhalb der Justiz wie außerhalb den Anschein der Rechts-
staatlichkeit und half so, das Unrecht, das unter ihrem Dach geschah, zu bemänteln.
Die Nationalsozialisten haben die alten Formen weitgehend respektiert und damit
den Eindruck erweckt, als ob alles so bliebe wie es war. So wurde die gesetzlich ver-
ankerte Unabhängigkeit formell zu keiner Zeit aufgehoben. Dem Richter verblieb da-
mit scheinbar auch in der Zeit der Nationalsozialisten die Aufgabe, allgemeine politi-
sche Vorgaben nicht losgelöst vom Recht, sondern anhand von Gesetzen zu konkre-
tisieren.
Einen weiteren Grund für die Anpassungsbereitschaft hat Hinrich Rüping genannt.
Das im Zuge der 1933 einsetzenden Reformdiskussion neu definierte Verhältnis des
Richters zum Gesetz, das diesem eine bedeutende Rolle als bisher zudachte. Rü-
ping führt hierzu aus: Die Legitimation des Richters zur Rechtschöpfung schien zum
ersten Mal die in der Richterschaft stets lebendige Vorstellung eines königlichen
Richters" zu verwirklichen und konnte sicher sein, von den Adressaten mit Sympathie
aufgenommen zu werden. Viele Richter haben es ausdrücklich begrüßt, dass sie
diese Rolle einnehmen sollten und ließen es dann auch an tatkräftiger Unterstützung
nicht fehlen.
Natürlich gab es Nazi-Gesetze, die eindeutig nicht mit dem früheren Recht zu verein-
baren waren wie die erwähnten Verschärfungen des Strafrechts, die Euthanasie-Ge-
setze oder die Eingriffe in jüdisches Eigentum. Aber das waren Sondervorschriften,
die den Kernbereich des bürgerlichen Rechts und des Strafrechts unberührt ließen.
Sie wurden von der Justiz ganz überwiegend passiv hingenommen und wenn nötig
auch angewendet.
Es gab da freilich auch Ausnahmen. Es gab Juristen, die sich der Gleichschaltung im
NS-Staat aktiv widersetzt haben. Ein Beispiel ist der immer wieder erwähnte Landge-
richtsrat Dr. Lothar Kreiyssig. Er gehörte der Bekennenden Kirche an und protes-
tierte im Juni 1938 öffentlich gegen die Verhaftung Martin Niemöllers, was ihm ein
Ermittlungsverfahren wegen Kanzelmissbrauchs und Verstoß gegen das Heimtücke-
gesetz eintrug.

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1939, Kreyssig amtierte inzwischen als Vormundschaftsrichter in Brandenburg an der
Havel, erfuhr er von den sogenannten Euthanasie-Tötungen. Er wandte sich darauf-
hin mit einem Brief an den Kammergerichtspräsidenten, in dem es unter anderem
hieß: Recht ist, was dem Volke nützt. Im Namen dieser furchtbaren, von allen Hü-
tern des Rechts in Deutschland noch immer unwidersprochenen Lehre sind ganze
Gebiete des Gemeinschaftslebens vom Recht ausgenommen, vollkommen z.B. die
Konzentrationslager, vollkommen nun auch die Heil- und Pflegeanstalten."
Der damalige Staatssekretär im Reichsjustizministerium bestellte Kreyssig daraufhin
zu einer Unterredung, konnte ihn jedoch nicht umstimmen. Im Gegenteil ­ Kreyssig
verbot verschiedenen Krankenanstalten die Verlegung seiner Schützlinge und er-
stattete Strafanzeige gegen Reichsleiter Bouhler als Verantwortlichen der Euthana-
sie-Aktion wegen Mordes. Dies veranlasste diesmal sogar Justizminister Gürtner zu
dem Versuch, den widerspenstigen Richter von der Rechtmäßigkeit der Aktion zu
überzeugen und ihm die Entlassung aus dem Amt anzudrohen. Auf eigenen Wunsch
wurde Kreyssig daraufhin ­ bei vollen Gehaltsansprüchen - in den vorzeitigen Ruhe-
stand versetzt. Die gegen ihn eingeleiteten Ermittlungsverfahren stellte man ein.
Derartiges oppositionelles Verhalten von Richtern im Rahmen ihrer Tätigkeit erfor-
derte also Mut und die Bereitschaft, notfalls Karriereeinbußen hinzunehmen. Wenige
einzelne Juristen allerdings ließen im Widerstand gegen das Unrecht sogar ihr Le-
ben.
Ich erinnere hier an den einstigen Richter am Reichsgericht und Leiter des Minister-
büros im Reichsjustizministerium Dr. Hans von Dohnanyi, der im März diesen Jahres
100 Jahre alt geworden wäre. Wegen seiner Beteiligung am 20. Juli 1944 wurde er
noch kurz vor Kriegsende, am 6. April 1945, von einem SS-Standgericht im KZ
Sachsenhausen zum Tode verurteilt und zwei Tage später hingerichtet. Den Vorsitz
des Standgerichts gegen Hans von Dohnanyi führte der Richter Dr. Thorbeck, Beisit-
zer war der Kommandant des Konzentrationslagers. Daran wird bereits ohne eine
weiteren Blick in das Todesurteil deutlich, dass es sich hier um ein Scheinverfahren
handelte. Das Gericht war weder ordnungsgemäß besetzt noch für den Angeklagten,
der nicht Mitglied der SS war, überhaupt zuständig.

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Ich gehe auf diesen Justizmord auch deshalb ein, weil es zu dem Fall noch eine
Fortsetzung gibt. Damit wende ich mich gleichzeitig dem zweiten Thema unserer
Ausstellung zu, der Frage nämlich, wie die Justiz der Bundesrepublik Deutschland
nach dem Krieg das Naziunrecht verarbeitet hat. Der Standgerichtsvorsitzende Dr.
Thorbeck wurde 1952 in der Bundesrepublik wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Die
Sache zog sich über mehrere Jahre hin und lag dreimal dem Bundesgerichtshof zur
Entscheidung vor. 1956 schließlich endete das Verfahren mit dem Freispruch des
einstigen SS-Richters, weil die hingerichteten Widerstandskämpfer nach den damals
geltenden und in ihrer rechtlichen Wirksamkeit nicht bestreitbaren Gesetzen Hoch-
und Landesverrat begangen hätten. Die Täter des Justizmords an Dr. von Dohnanyi
wurden damit faktisch rehabilitiert, und dem Opfer wurde bescheinigt, dass es sich
durch seine Beteiligung am Attentat vom 20. Juli rechtswidrig und falsch verhalten
habe.
Und so geschah es mehr oder weniger spektakulär in zahllosen Fällen. Das nieder-
schmetternde Fazit lautet: Bis auf zwei Ausnahmen in der unmittelbaren Nachkriegs-
zeit ist kein Richter, kein Staatsanwalt wegen seiner Beteiligung an NS-Todesurteilen
zur Rechenschaft gezogen worden. Die wenigen Prozesse endeten wie der gegen
Thorbeck mit Freispruch ­ zumeist wurden entsprechende Verfahren aber eher laut-
los bereits im Ermittlungsstadium eingestellt. Allein in Niedersachsen endeten über
50 Verfahren wegen Justizverbrechen auf diese Weise.
Mit der jahrzehntelangen Bestätigung des NS-Unrechts aber nicht genug: Nachdem
die Alliierten ab 1945 zunächst mit der NS-Rechtsordnung gebrochen, im Nürnberger
Juristenprozess 12 führende deutsche Justizjuristen zu hohen Freiheitsstrafen ver-
urteilt und zahlreiche belastete Richter und Staatsanwälte ihres Amtes enthoben
hatten, befanden sich die Verurteilten bereits Anfang der 50er Jahre wieder in Frei-
heit und die Entlassenen ­ soweit sie noch verwendungsfähig waren ­ in ihren Äm-
tern.
So betrug in Niedersachsen der Anteil von Richtern, die einstmals Mitglieder der
NSDAP gewesen waren, mehr als 80 % und auch der Bundesgerichtshof, der 1950
den Obersten Gerichtshof der Britischen Zone als höchste Revisionsinstanz ablöste,

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wurde zu etwa 80 % mit ehemaligen NS-Richtern besetzt. Erst Mitte der 80er Jahre
schieden die letzten formell belasteten Juristen altersbedingt aus dem Justizdienst
aus.
Ein besonders bekanntes Beispiel aus Hannover ist der Landgerichtsdirektor Dr. Kurt
Bellmann. Als Vorsitzender des Sondergerichts Prag war er in der Zeit von 1941 bis
1945 für mindestens 110 Todesurteile gegen Oppositionelle verantwortlich. Dafür
wurde er 1947 in Prag zu lebenslanger Haft verurteilt, jedoch 1955 als nichtbegna-
digter Verbrecher in die Bundesrepublik abgeschoben. Bereits 1956 amtierte er wie-
der als Direktor des Landgerichts Hannover. Eine noch steilere Karriere machte der
Staatsanwalt Dr. Willi Geiger. Zunächst profilierte er sich mit seiner Doktorarbeit, mit
der er das Berufsverbot für jüdische Journalisten, den sogenannten Arierpa-
ragraphen, juristisch rechtfertigte: Die Vorschrift hat mit einem Schlag den über-
mächtigen, volksschädigenden und kulturverletzenden Einfluss der jüdischen Rasse
auf dem Gebiet der Presse beseitigt." Später hat er an sechs Todesurteilen von Son-
dergerichten mitgewirkt. Das bekannteste dieser Urteile war das gegen den 19-jähri-
gen Juden Stachak, der 1945 wegen Rassenschande mit seiner 16-jährigen deut-
schen Freundin hingerichtet wurde. In diesem Fall hatte Geiger durch persönlichen
Einsatz erfolgreich darauf hingewirkt, dass ein zunächst auf Lebenslang und Einwei-
sung in ein Konzentrationslager lautendes Urteil in die Todesstrafe umgewandelt
wurde. Ich erwähne diese Geschichte, weil Herr Dr. Geiger später Vizepräsident des
Bundesverfassungsgerichts und Präsident des Deutschen Katholikentages geworden
ist.
Aber auch aus der Nachkriegszeit gibt es erfreulicherweise Gegenbeispiele von sol-
chen Juristen, die die zwölf Jahre der Nationalsozialisten unbelastet überstanden
hatten und danach den Mut zeigten, gegen den Zeitgeist zu handeln. Ein Beispiel ist
hier Fritz Bauer, zunächst Generalstaatsanwalt in Braunschweig, später in Frankfurt
am Main, über dessen Biographie und Wirken Sie in der Ausstellung auch lesen kön-
nen. Er wandte sich energisch gegen die Tendenz, die juristische Aufarbeitung des
NS-Unrechts sang- und klanglos zu beenden, und sah es als demokratischen Sinn
der NS-Prozesse an, über das mörderische Fundament der NS-Herrschaft aufzuklä-
ren. Indem er in den 60er Jahren den großen Auschwitz-Prozess nach Frankfurt
holte, gab er für solche juristische Aufklärungsarbeit die Initialzündung. Mit Fritz

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Bauer begegnet uns nun ein weiteres Mal ein Jurist, der durch seine Zivilcourage und
Menschlichkeit auffällt. Er steht damit in der Tradition von Lothar Kreyssig oder Hans
von Dohnanyi.
Die Beispiele dieser drei Justizpersönlichkeiten geben Anlass zu der Frage, was sie
wohl geprägt haben mag, die Kraft dafür aufzubringen, gegen den Strom zu
schwimmen. Erklärungen dafür, was denn die überwältigende Mehrheit der Juristen
dazu veranlasst hat, sich widerspruchslos in den NS-Staat einzufügen, hatte ich ja
bereits angeboten. Abschließend möchte ich nun kurz darauf eingehen, welche Ein-
flussfaktoren die Entstehung von Zivilcourage fördern.
Bei den Forschungen, die zu dieser Frage vorliegen, handelt es sich zum Teil um
Experimentaluntersuchungen wie sie etwa Milgram durchgeführt hat. Seine For-
schungsergebnisse sind vor allem deshalb bekannt geworden, weil sie zeigen, welch
hoher Prozentsatz der Menschen bereit ist, unter dem Druck autoritär vorgetragener
Handlungsbefehle in einer bestimmten Versuchsanordnung Stromschläge auszutei-
len. Weniger bekannt ist, dass es unter den Teilnehmern des Experimentes etwa
sieben Prozent gab, die sich von Beginn an den Anordnungen widersetzten und Cou-
rage zeigten. Und diese hat man dann natürlich genauer untersucht und wollte wis-
sen, wie es denn kommt, dass sie ihre Mitleidsregungen mit den Opfern der Strom-
schläge nicht unterdrückt und sich den Anordnungen des Versuchsleiters widersetzt
haben.
Ein anderer Weg, die Genese von Zivilcourage zu untersuchen, ist der, im realen
Leben nach mutigen Menschen zu suchen. Die frühere Milgram-Mitarbeiterin Eva
Fogelmann hat dies beispielsweise getan oder auch das amerikanische Forscher-
Ehepaar Oliner. In beiden Untersuchungen ging es um die Biographie solcher Men-
schen, die in der Nazizeit unter Inkaufnahme großer persönlicher Risiken Juden ge-
rettet haben.
Die Wissenschaftler entdeckten, dass es ganz unterschiedliche Typen von Menschen
waren, die sich zu diesem mutigen Verhalten entschlossen hatten. Da gab es zum
einen solche, die das aus grundsätzlichen Erwägungen getan haben. Berthold Beitz
ist hier ein gutes Beispiel, der über den Naziterror gegen Juden schlicht entsetzt war

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und dann nach Mittel und Wegen gesucht hat, wie er den so bedrängten Menschen
helfen konnte. Zum Zweiten gab es unter den Rudenrettern nicht weniger, die mit der
Person, für deren Schutz sie so viel investierten, befreundet waren. Und schließlich
gibt es da noch eine dritte Gruppe von Judenrettern: Menschen, die plötzlich auf ei-
nen jüdischen Mitbürger gestoßen sind, der in Not war und die dann schlicht zu viel
Mitleid hatten, um hier wegschauen zu können.
Ein Beispiel ist die polnische Taglöhnerin, die sich im Winter 1944 auf dem Heimweg
befindet. Sie lebt in einem Dorf ganz in der Nähe von Majdanek. Plötzlich springt ein
Mann vor ihr auf den Weg, wirft sich ihr zu Füßen und fleht sie mit gefalteten Händen
an, ihn zu retten. An seiner Kleidung und seinem Aussehen erkennt sie sofort, dass
er ein Jude aus dem Konzentrationslager ist, dem dort die Flucht gelungen war. Sie
hat Angst. Im Dorf leben Gestapo-Leute. Und selbst bei den Landsleuten kann sie
nicht sicher sein. Trotzdem kann sie nicht nein sagen. So entkräftet, wie er ist, würde
der Flüchtling die Nacht im Freien wohl nicht überleben. Sie überwindet ihre Angst
und fordert ihn auf, ihr schnell zu folgen. Als sie das rettende Ufer erreicht, ihr Häu-
schen am Rande des Dorfes, wird ihr schnell klar, dass der Mann als erstes in die
Badewanne muss, so verdreckt und verfroren wie er ihr da gegenübersitzt. Aber er
ist sogar zu schwach, sich auszuziehen. Wie bei einem kleinen Kind muss sie das
ebenso übernehmen wie das Abtrocknen und das Einkleiden in die Sachen ihres im
Krieg gefallenen Mannes. Nach dem Essen kommt er dann allmählich zu Kräften,
und sie kann ihm erklären, welche Richtung er am nächsten Morgen einschlagen
muss, um versorgt mit Geld, das sie entbehren kann, das rettende Ausland zu errei-
chen. Das schafft er dann tatsächlich. Auf Umwegen landet er in den USA und kann
Anfang der 80-er Jahre den Wissenschaftlern erklären, wo sie möglicherweise seine
Retterin finden können. So kommt es zu dem Interview mit ihr, in dem sie Auskunft
darüber gegeben hat, was sie in ihrem Leben geprägt hat.
Die Erkenntnisse der Wissenschaftler zur Biographie von Hilfsbereitschaft, Zivilcou-
rage und der Fähigkeit, sich unabhängig ein eigens moralisches Urteil zu bilden und
danach zu handeln, lassen sich in vier Punkten zusammenfassen:
?
Gewaltfreie Erziehung fördert den Aufrechten Gang. Die meisten der mutigen
Menschen waren ohne Schläge erzogen worden. Natürlich gab es auch ei-
nige, die gelegentlich eine Ohrfeige oder einen Klaps auf den Hintern abbe-

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kommen hatten. Aber das waren relativ wenige. Zudem erläuterten sie fast
durchweg, dass sie es sehr gut nachvollziehen konnten, warum die Eltern sich
nicht mehr anders zu helfen wussten. Und sie ergänzten häufig, die Eltern
hätten ihr eigenes Unbehagen über diese Form der Auseinandersetzung deut-
lich zum Ausdruck gebracht.
?
Liebevolle Erziehung fördert Empathie, fördert die Fähigkeit, Mitleid zu empfin-
den und damit auch die Bereitschaft, sich für den leidenden Menschen einzu-
setzen. Die wegen ihrer Hilfsbereitschaft Befragten haben den Wissenschaft-
lern eindrucksvoll beschrieben, wie liebevoll ihre Eltern mit ihnen umgegangen
sind wie sie sich engagiert mit ihnen darüber auseinandergesetzt haben, was
richtig du was falsch ist. Auffallend ist ferner, dass sich in diesen Familien
Wärme und Fürsorge nicht auf Kinder und enge Verwandte beschränkte. Das
war keine Gluckenliebe, die nur die eigenen Küken im Auge hat. Mindestens
einer der Eltern wird als jemand beschrieben, der sich engagiert für Menschen
in Not eingesetzt hat und so zum Vorbild geworden ist.
?
Die Gleichrangigkeit der Eltern fördert die Entstehung einer innengesteuerten
Moral und damit eine stabile Wertorientierung. Insbesondere die Forschungen
zum Milgram-Experiment und die Untersuchungen zur Entstehung des morali-
schen Bewusstseins haben gezeigt, dass die Kraft der inneren Stimme und
damit die Stärke des Gewissens wesentlich davon abhängt, wie die Eltern
untereinander mit Konflikten umgehen. Wenn beispielsweise ständig der Vater
dominiert und in Streitsituationen deswegen obsiegt, weil das seine traditio-
nelle Rolle ist, weil er über größere Körperkräfte verfügt oder weil er das Ein-
kommen der Familie verdient ( Wer zahlt, schafft an!"), dann fördert das bei
den Kindern eine eher opportunistische Grundeinstellung. Die Orientierung an
Grundwerten entwickelt sich dagegen bei den Kindern und Jugendlichen am
besten, die innerfamiliär demonstriert bekommen, dass nicht die Macht Ober-
hand behält sondern die Position, die besser begründet werden kann.
?
Eine Kultur der Anerkennung fördert couragiertes Verhalten. Menschen, die
Hilfsbereitschaft und Zivilcourage demonstriert haben, stellen sich keineswegs
als Helden oder Heilige dar. In den Interviews betonen sie vielmehr, welch

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große Bedeutung es für ihr Verhalten gehabt hat, dass sie in einer Gemein-
schaft gelebt haben, in der es eine Kultur der Anerkennung für das Richtige
gegeben hat. Ihre Botschaft lautet: Als isoliert lebende Menschen sind wir in
Gefahr, schwach zu werden und wegzuschauen. Wenn wir dagegen in einer
Gruppe leben, die richtiges Verhalten durch Zuwendung und Unterstützung
belohnt, gewinnen wir die Kraft, das Richtige zu tun.
Damit habe ich vier Einflussfaktoren benannt, die für das Verhalten der einzelnen
Menschen von Bedeutung sind. Aber es geht ja um mehr. Es geht darum, die politi-
sche Kultur eines Landes insgesamt so zu prägen, dass Hilfsbereitschaft und Zivil-
courage gefördert werden und angepasstes Duckmäusertum nicht prägend für das
Verhalten der Menschen wird. Dafür brauchen wir in der Öffentlichkeit die Auseinan-
dersetzung darüber, was in der Vergangenheit falsch und was richtig gelaufen ist.
Deshalb ist ein guter Geschichtsunterricht an Schulen so wichtig. Und deshalb brau-
chen wir eine Kultur der Erinnerung und der offenen Auseinandersetzung, wie wir
das heute hier mit unserer Ausstellung versuchen.
Eingangs meiner Rede bin ich bereits darauf eingegangen, dass wir in Deutschland
erst in den 90-er Jahren die Kraft dazu gefunden haben, uns dieser Aufgabe zu stel-
len. Zwar hat es bereits früher entsprechende Versuche gegeben. Aber sie waren für
die Initiatoren dann doch mit erheblichen Risiken verknöpft. So hat beispielsweise
der Sozialistische Deutsche Studentenbund im Jahr 1959 in Karlsruhe unter dem
Titel Ungesühnte Nazijustiz" eine Ausstellung gezeigt, in der aus den Originalakten
fotokopierte Todesurteile der nationalsozialistischen Gerichte dokumentiert wurden.
Jene Studierenden, die für die Ausstellung verantwortlich waren und zugleich auch
Strafanzeigen gegen belastete Richter und Staatsanwälte gestellt hatten, kostete
dieser Einsatz damals allerdings teilweise die Staatskarriere. Die kritische Auseinan-
dersetzung mit der Vergangenheit war eben Anfang der 60-er Jahre noch nicht
mehrheitsfähig. Wer das versucht hat, galt als Nestbeschmutzer und riskierte per-
sönliche Nachteile.
Erst als die für das NS-Unrecht Verantwortlichen nicht mehr in Machtpositionen sa-
ßen oder schlicht gestorben waren, war endlich der Weg frei, eine breite Erinne-
rungskultur in Gang zu bringen. Erst dann gefährdete eine öffentlichkeitswirksame

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Analyse der Verstrickung in den Unrechtsstaat nicht mehr die Legitimation unserer
staatlichen Instanzen. Den Anfang hat hier Richard von Weizsäcker im Jahr 1985 mit
seiner oben bereits erwähnten Rede gemacht. In den 90-er Jahren kam es dann
endlich zu solchen Ausstellungen wie der des Bundesjustizministeriums, die unter
dem Titel Im Namen des deutschen Volkes" Beispiele für Naziunrecht präsentierte
oder die Ausstellung der Bundesrechtsanwaltskammer Anwalt ohne Recht", die sich
mit dem Schicksal jüdischer Anwälte nach 1933 beschäftigt. Hinweisen möchte ich
ferner auf die Wehrmachtsausstellung, die bei aller Detailkritik an ihrer ursprüngli-
chen Form die Legende von der sauberen Wehrmacht" widerlegen konnte. In die-
sem Zusammenhang verdient ferner der Beschluss des Deutschen Bundestages
vom 25. August 1998 Erwähnung. Er hob die strafrechtlichen Entscheidungen auf,
die unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem 30. Ja-
nuar 1933 zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Re-
gimes aus politischen, militärischen, rassischen, religiösen und weltanschaulichen
Gründen ergangen waren.
Damit bin ich wieder bei dem angelangt, was uns heute hier zusammengeführt hat.
Auch die niedersächsische Justiz hat sich lange Zeit damit schwer getan, sich offen
mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Mein großer Respekt gilt all jenen, die
am Klimawandel der letzten zehn Jahre mitgewirkt haben. Als ich Justizminister
wurde, war die Wanderausstellung zu den Justizverbrechen aus der Nazizeit bereits
von meinem Vorgänger Wolf Weber vorbereitet, dem sie ein großes Anliegen war.
Mir war es eine große Freude, die Ausstellung unmittelbar nach meinem Amtsantritt
eröffnen zu können.
Seitdem wird sie mit einem unerwartet großen Erfolg an den niedersächsischen Ge-
richtsstandorten gezeigt. 43.000 Menschen haben sie bis heute besucht, 550 Füh-
rungen haben stattgefunden. Und eine Kopie steht nun auch in der Justizakademie
des Landes Nordrhein-Westfalen in Recklinghausen. Sie wird in diesem Monat in
Hagen und später in weiteren Städten gezeigt.
Für diesen Erfolg habe ich vielen Menschen zu danken, die sich neben Wolf Weber
und dem Staatssekretär meines Hauses Dr. Rainer Litten für das Projekt eingesetzt
haben. Wilfried Knauer als Leiter der Gedenkstätte, den Mitgliedern der Kommission

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des Gedenkstättenbeirats beim Niedersächsischen Kultusministerium, allen voran
Prof. Dr. Joachim Perels und Dr. Helmut Kramer. Ein ganz besonders herzlicher
Dank geht schließlich an meinen Freund Andor Iszák, der heute hier mit seinem Chor
des Europäischen Zentrums für jüdische Musik das eindrucksvolle Rahmenpro-
gramm gestaltet hat.
Die niedersächsische Justiz stellt sich damit, wenn auch spät, aus eigener Kraft ih-
rem doppelten Versagen nach 1933 und nach 1945. Als Justizminister
Niedersachsens verbinde ich damit an dieser Stelle den Ausdruck meines tiefsten
Bedauerns über die furchtbaren Verirrungen und Versäumnisse unserer Vorgänger
in Gerichten, Staatsanwaltschaften und Verwaltung.
Insbesondere gegenüber jenen unter Ihnen, deren Familienangehörige Opfer des
Nationalsozialismus und seiner Justiz wurden, sage ich das in dem Bewusstsein,
dass dieses Bedauern die Versäumnisse der Vergangenheit nicht wiedergutmachen
kann. Aber es kann, so hoffe ich, gerade jetzt dazu beitragen, die Maßstäbe rechts-
staatlichen Handelns wieder verstärkt in das öffentliche Bewusstsein zu rücken.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.