Auszug:
Auf Vorschlag der Ärzteschaft wurde folgendes realisiert: Die vierte Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutz des inneren Friedens vom 8.12.1931 (RGBl. I S. 699) sah in § 1den Abschluss von Gesamtverträgen zwischen Kassen und kassenärztlichen Vereinigungen vor. Nach § 2 gewährten die Kassen für die Dienste der Ärzte eine Gesamtvergütung, deren Höhe sich nach dem durchschnittlichen Jahresbedarf für ein Kassenmitglied bestimmt (Kopfpauschale). Nach § 3 entrichtete die Kasse die der durchschnittlichen Mitgliederzahl entsprechende Gesamtvergütung mit befreiender Wirkung an die kassenärztliche Vereinigung. [Die Ausführungs- und Überleitungsbestimmungen über das kassenärztliche Dienstverhältnis vom 30. Dezember 1931 (RGBl. 1932 I S. 2) konkretisierten dies. Die Verordnung über kassenärztliche Versorgung vom 14. Januar 1932 (RGBl. I S.19) paßte die §§ 368- 373 RVO (Reichsversicherungsordnung) dem neuen Rechtszustand an.]
Die Vereinigung verteilt die Gesamtvergütung unter die Kassenärzte und wendet dabei den Maßstab an, den sie im Benehmen mit der Krankenkasse festgesetzt hat. Diese Notverordnung führte zu einer grundlegenden Umgestaltung: Das bisher bestehende Dreiecksverhältnis Arzt Mitglied Kasse wurde in ein Vierecksverhältnis umgewandelt, indem zusätzlich die Kassenärztlichen Vereinigungen eingeschaltet wurden. Diese übernahmen gegenüber den Kassen die Verpflichtung zur Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung und erlangten dafür den Anspruch auf Zahlung einer Gesamtvergütung, welche die Kassen an sie mit befreiender Wirkung zahlten. Die Gesamtvergütung war dabei nicht etwa die Summe der Einzelansprüche der Ärzte. Vielmehr handelte es sich um einen einheitlichen Betrag, der nach anderen Grundsätzen erhoben wurde als er verteilt wurde. Für die Erhebung war eine Kopfpauschale maßgeblich, während sich die Verteilung nach Einzelleistungen richtete. Dies hatte zur Folge, dass der Arzt durch Steigerung seiner Leistungen nicht etwa die Gesamtvergütung, sondern nur seinen Anteil daran erhöhte, was stets zu Lasten der anderen Ärzte ging. Die Kassenärztlichen Vereinigungen waren Körperschaft des öffentlichen Rechts. Alle Kassenärzte gehörten ihr zwangsweise an. Die Verquickung dieser öffentlichrechtlichen Institution mit dem privaten, wirtschaftliche Interessen verfolgenden Hartmannbund war perfekt: der Vorstand des örtlichen Hartmannbundes wurde Vorstand der jeweiligen kassen-ärztlichen Vereinigung. Und: Für die einzelnen Krankenkassen bedeutete das neue Kassenarztrecht eine weitgehende Aufhebung ihrer bisherigen Selbstverwaltung in der ärztlichen Versorgung ihrer Mitglieder (Tennstedt).
Die Schaffung der Kassenärztlichen Vereinigungen als öffentlich-rechtliche Körperschaften mit Pflichtmitgliedschaft war der Preis für die Stabilisierung der Krankenversicherung die gesamten heutigen Strukturen des Vertragsarztrechts gehen somit auf einen Tauschakt in der Spätphase der Weimarer Republik, in dem die freiberufliche Autonomie gegen Selbstkontrolle durch Körperschaften eingehandelt wurde (Wahl).
Das Berufsbeamtengesetz schuf im Jahre 1933 die Handhabe, um den NS-Machthabern missliebige Personen aus öffentlichen Ämtern entfernen und teilweise inhaftieren und ermorden zu können. Hiervon wurden auch die sozialdemokratisch dominierten Krankenkassen betroffen. Etwa ein Drittel aller Ortskrankenkassenangestellten, rund 6.000 Personen, wurden entlassen. In der AOK Berlin wurden sogar mehr als 95 Prozent des Personals entlassen. Offiziell galten die Aktionen der Beseitigung von angeblichen Missständen und von Bonzentum. In Wahrheit handelte es sich um ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für stellungslose Alte Kämpfer der Nazipartei. Da diesen Parteibuchleuten die Fachkenntnisse fehlten, führten teilweise erst sie Missstände ein, eine Senkung des Anteils der Verwaltungskosten an den Ausgaben, wie er vor allem bei den Ortskrankenkassen eingesetzt hatte fand ihr Ende (Tennstedt).
Das Berufsbeamtengesetz wurde sinngemäß auch auf die Ärzteschaft angewendet. Die Ausschaltung der jüdischen Ärzte, die vielfach zu deren Ermordung führen sollte, wurde eingeleitet. Die Notwendigkeit, die ärztliche Versorgung der Bevölkerung nicht allzu offensichtlich zu gefährden (allein in Berlin waren fast sechzig Prozent der Kassenärzte Juden), bremste den Ablauf dieser Entwicklung nur vorübergehend, ohne ihn aufzuhalten. 1938 war er abgeschlossen. Viele jüdische Ärzte wurden in der Folgezeit in Konzentrationslagern ermordet. Einigen gelang es, zu emigrieren. Sie leisteten in vielen Ländern Herausragendes.
Durch Verordnung vom 2. August 1933 (RGBl. I S. 567) wurde die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands alleiniger Träger der Beziehungen zwischen Kassenärzten und Krankenkassen und damit Körperschaften des öffentlichen Rechts. Durch die Reichsärzteordnung vom 13. Dezember 1935 (RGBl. I S. 1433) wurden der Deutsche Ärztevereinsbund und der Hartmannbund aufgelöst. Rechtsnachfolger wurden die neu gegründete Reichsärztekammer und die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands. Augrund der vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz (Reichsgesetzbl. I S. 1146) erlosch 1938 die Approbation von Juden. 1945 wurden beide Einrichtungen durch Beschluss des Alliierten Kontrollrates aufgelöst.
Nach 1945 wurde das alte System in seinen Grundzügen wieder aufgebaut und weiter ausgebaut. Alle eingangs genannten Fehlentscheidungen prägen bis heute das System der gesetzlichen Krankenversicherung. Dieses System wurde bis an die Grenze einer Volksversicherung erweitert. Dabei ist die Bezeichnung Versicherung irreführend. Es handelt sich vielmehr um eine Finanzierungseinrichtung, die Sachleistungen nach Bedarfsgesichtspunkten gewährt. Da die Grenzen des Gesundheitsbedarfs nicht festgelegt sind, und da die Beiträge nicht durch den Bedarf, sondern durch das Arbeitseinkommen bestimmt sind, sind Finanzierungslücken unvermeidbar.
Alle Kostendämpfungsmaßnahmen sind zum Scheitern verurteilt, weil diese Lücken aus einem von Grund auf verfehlt konstruierten System erwachsen. Derjenige, um den es eigentlich geht, und der alles bezahlt der Beitragszahler und Patient spielt dabei so gut wie keine Rolle. Er hatte und hat keine Lobby und taucht in allen Phasen der Entwicklung nur als Objekt auf. Im Kaiserreich war er der politisch mit Misstrauen betrachtete Arbeiter und Sozialdemokrat, den es zu befrieden galt. Im NS-Unrechtsstaat war er der Volksgenosse, der nichts war, während sein Volk alles war. Heute ist er der entmündigte Beitragszahler, für den der Arbeitgeber Beiträge vom Lohn abführt, dem der Umfang seinerVersicherung vorgeschrieben wird, und dem man Sachleistungen gewährt, weil man ihm nicht zutraut, mit Geld verantwortungsvoll umzugehen. Die Ärzteschaft hat sich ungeachtet aller Lippenabsagen an die Zwei-Klassen-Medizin daran gewöhnt, den Kassenpatienten als finanziell entmündigten Kunden zweiter Klasse zu behandeln, den man als Kranken-gut ansieht, und für den anonyme Institutionen finanzielle Verantwortung tragen. Da der Patient nicht erfährt, was der Vertragsarzt abrechnet, ist der Abrechnungsbetrug systembedingt vorprogrammiert. Die Entmündigung trägt wiederum dazu bei, dass der Patient bemüht ist, möglichst viel aus dem Gesundheitskuchen herauszuholen, ohne dafür Verantwortung tragen zu müssen. Es besteht ja kein Zusammenhang zwischen dem Umfang seiner Beiträge und dem Umfang der dafür gewährten Leistungen.
Die Kassenärzte befinden sich in einer permanentenProtesthaltung gegenüber den negativen Auswirkungen des Systems. Diese formiert ihr politisches Erinnerungsbild und prägt ihre spezifische Identität (Tennstedt). Speziell im Verhältnis zu den Kassenärztlichen Vereinigungen mutet es befremdlich an, dass Fleiß und Leistung systembedingt immer auf Kosten anderer Vertragsärzte gehen und deshalb von diesen bekämpft werden. Dass Eigenschaften, die den Erfolg einer Volkswirtschaft ausmachen, als übermäßige Ausdehnung der ärztlichen Tätigkeit gesetzlich denunziert und mit Honorarkürzungen bestraft werden, ist ein Unikum, welches es in keinem anderen Beruf gibt. Die ständig zunehmende Verrechtlichung des Sozialrechts hat zu einem unüberschaubaren Dickicht von ständig wechselnden Normen geführt, die ihrerseits wieder eine Flut von Gerichtsverfahren auslösen.
In Rechtskonflikten stehen die Kassenärztlichen Vereinigungen
als Körperschaften des Öffentlichen Rechts den Kassenärzten
als eine bedrohliche Macht gegenüber, die Verwaltungsakte
erlassen und durchsetzen kann, gegen die nur der langwierige,
teure und ungewisse Rechtsweg hilft. Dass eine Organisation, die
eigentlich eine Gewerkschaft ist, über ihre
Mitgliederhoheitliche Macht ausübt, ist ohne Beispiel. Schon im
Kaiserreich zeigte die Kritik an der Herrschaft der
Sozialdemokratie in der Krankenversicherung, dass hier eine
Pfründe existierte, die einer bestimmten Schicht zugute kam. Die
Ablösung der Sozialdemokraten durch die Naziverbrecher im
Jahre1933 zeigt, wie eine andere Schicht diese
Pfründevereinnahmte. Sie zeigt aber auch, dass hier, im
Unterschied zur privaten Versicherung, Fachwissen und
Sachverstand keine primäre Rolle spielten. Angesichts der
weitgehenden Selbstentmachtung der Krankenkassen durch die Praxis
der Gesamtvergütung fragt man sich, ob diese von
einzelnen Alibifunktionen abgesehen seit 1931 überhaupt
noch eine sinnvolle Aufgabe erfüllen. Jede private (Kranken-)
Versicherung wird durch 2 Geschäftsfelder bestimmt, den
Vertrieb, bei dem es um die Gewinnung von Versicherten geht, und
die Schadenbearbeitung. Den Vertrieb hat bei den Kassen
weitgehend der Gesetzgeber durch die Normierung der
Zwangsmitgliedschaft der Mitglieder übernommen, und die
Schadenbearbeitung liegt aufgrund der Gesamtvergütung voll in
Händen der Kassenärztlichen Vereinigung. Während die Kassen
eine sinnvolle Aufgabe erfüllen könnten, wenn sie sich auf die
Versicherungsprinzipien besinnen und die Sozialpolitik den
Sozialpolitikern überlassen würden, ist eine wirkliche
Existenzberechtigung der Kassenärztlichen Vereinigungen nicht
erkennbar. Sie entstanden in einer extremen Notlage aufgrund
eines fragwürdigen Tauschhandels, und sie haben zu einer
Funktionärsherrschaft geführt, deren unheilvolles Wirken
vielfach belegt werden kann. Als Beispiel sei nur auf die
Entwicklung zur Apparatemedizin in den letzten dreißig Jahren
hingewiesen, durch welche der Einsatz von Medizintechnik
übermäßig honoriert wird, während für die eigentliche
ärztliche Leistung lächerlich geringe Beträge bezahlt werden.
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Quelle: http://www.schottdorf.de/oeffentlichkeit/pdf-files/gpk_43_02-04-4.pdf, http://www.arzt-in-europa.de/pages/2002FH_Geburtsfehler.htm.
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