Die parlamentarische Demokratie basiert auf dem Vertrauen des Volkes; Vertrauen ohne Transparenz, die erlaubt, zu verfolgen, was politisch geschieht, ist nicht möglich (BVerfGE 40, 296 <327>)
„Zugang zu
Informationen der Behörden ist ein fundamentales Menschenrecht, das
auf nationaler Ebene durch eine umfassende Gesetzgebung
gewährleistet sein muss, die auf dem Prinzip der größtmöglichen
Offenlegung basiert".
UN, OSZE und OAS Sonderbeauftragte für den
Schutz der Meinungsfreiheit 2004
in English on same subject: http://wkeim.bplaced.net/files/foi-ccpr-de.htm
Stuttgart 21 (auch kurz: S21) ist ein im Bau befindliches Verkehrs- und Städtebauprojekt zur Neuordnung des Eisenbahnknotens Stuttgart. Kernstück ist der Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof. Die Neubaustrecke Stuttgart-Wendlingen ist notwendig um S21 ausnützen zu können.
Mit "Tricksen und täuschen" (Frankfurter Rundschau, 19.8.2010) wurde Stuttgart 21 beschlossen und die Planung vorangetrieben.
Zweifel, ob dieses Projekt sinnvoll ist, führten zu umfangreichen Protesten gegen Stuttgart 21 mit z. B. wöchentlichen Demonstrationen und Bürgerbegehren. Die Ablehnung des Projekts und das Ausmaß des Protests war so stark, dass das Wort vom Wutbürger gebraucht wird.
Die Schlichtung von 22.10. bis 30.11.2010 sollte mit Offenheit und Transparenz das "Ende der Mogelei" (Spiegel online, 11.10.2010) bringen. Alle Fakten sollten "auf den Tisch kommen".
Die Befürworter und Gegner von Stuttgart 21 sind sich nun einig, dass Offenheit und Transparenz notwendig sind um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Die Bahn versprach, künftig bei großen Vorhaben stärker den Austausch mit den Bürgern suchen.
Aber wurden daraus auch alle notwendigen Konsequenzen gezogen? Aus der Sicht des Aktionsbündnisses wurde bei der Schlichtung das Ziel "Alle Fakten auf den Tisch" nicht erreicht. "Viele Unterlagen zum Projekt wurden gar nicht oder nur zu unannehmbaren Konditionen zur Verfügung gestellt".
Auch Volksvertreter kämpfen für Informationsrechte des Bundestages und der Abgeordneten. Die Bundestagsfraktion der Grünen will mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht erzwingen, dass die Verträge und Gutachten zum umstrittenen Bahnprojekt Stuttgart 21 offen gelegt werden.
Der Bundesrechnungshof ist der Ansicht, dass beide Vorhaben sowohl Stuttgart 21 als auch die Neubaustrecke Wendlingen Ulm, aufgrund der überwiegenden Finanzierung durch den Bund tatsächlich als dessen Projekte einzustufen sind. Trotzdem verweigert die Bundesregierung dem Bundestag Auskunft über die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm mit Hinweis, dass es sich um ein Projekt der Bahn und Baden-Württemberg handle. In der Drucksache 17/3269 (Antwort auf kleine Anfrage) steht "Stuttgart 21 ist "ein eigenwirtschaftliches Projekt der DB Bahn AG".In Europa fehlen Informationsfreiheitsgesetze
neben Baden-Württemberg und Bayern im Wesentlichen
nur noch in Weißrussland. Mehr als 90
Staaten weltweit mit mehr als 5,5 Milliarden Menschen sichern
dieses Recht durch Informationsfreiheitsgesetze. Nachdem die
wirtschaftlich aufstrebenden BRICS-Staaten Indien 2005, China 2008,
Russland 2010 und Brasilien 2011 den Zugang zu Dokumenten der öffentlichen
Verwaltung gesetzlich geregelt haben, fehlt
weltweit im Wesentlichen nur noch Afrika und der Nahe Osten. Offenheit
und Transparenz ist auch deshalb wichtig, weil die UN
Konvention gegen Korruption zwar von mehr als 158 Staaten
ratifiziert ist, nicht aber von Deutschland.
Auch Stuttgart21Leaks und Bayernleaks zeigt zivilgesellschaftliches Interesse und Engagement. Stuttgart21Leaks dokumentiert anhand von internen Dokumenten, dass sowohl der Öffentlichkeit, dem Wähler als auch den Parlamentariern und sogar der Landesregierung wesentliche Informationen vorenthalten wurden. Wie kann vor diesem Hintergrund von demokratischer Legitimation gesprochen werden?
Um etwas Demokratie zu verwirklichen wurden deshalb als Akt zivilgesellschaftlichen Notwehr mehr als ein Dutzend Anträge auf Informationszugang beim Verkehrsministerium (BMVBS), Eisenbahn-Bundesamt (EBA), Rechnungshof, Haushaltsausschuss des Bundestages und beim Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg gestellt.
Das Bundesverkehrsministerium lehnt am 26.11.2010 Akteneinsicht in das Gutachten "Neubewertung der Nutzen-Kosten-Analyse der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm" ab da ein Geschäftsgeheimnis vorliege. Bundesrechnungshof und dem Eisenbahn-Bundesamt teilen mit, dass das Gutachten dort nicht vorliegt. Obwohl im Widerspruch die Einsicht auf die Gesamtkosten und das Inhaltsverzeichnis begrenzt wurden, erfolgt eine erneute Ablehnung. Der Bundesbeauftragte wurde angerufen. Aber auch ein Jahe später im November 2011 hat das Bundesverkehrsministerium immer noch nicht seinen Vermittlungsvorschlag beantwortet. Offensichtlich ist dadurch der" unverzügliche" Zugang (§ 7 (5) IFG) verletzt. Allerdings hat der Bundesbeauftragte kein Machmittel das IFG durchzusetzen.
Auch andere Anträge auf Informationszugang werden aus unterschiedlichen Gründen abgelehnt. Das BMVBS macht Geschäftsgeheimnisse geltend. Das trifft offenbar nicht auf die Gesamtkosten zu. Das Eisenbahn-Bundesamt beruft sich bei der Neubaustrecke Wendlingen Ulm auf besondere behördliche Belange, d.h. nachteilige Auswirkungen auf Kontroll- und Aufsichtsaufgaben. Der Bundesrechnungshof gibt einen Brief an den Haushaltsausschuss des Bundestages nicht frei, da er weder eine Behörde ist noch öffentlich rechtliche Aufgaben ausführt. [Das Oberverwaltungsgericht NRW, Urteil vom 26.10.2011, Aktenzeichen: 8 A 2593/10 stellte im Berufungsverfahren fest, dass das Gesetz für Informationsfreiheit auch für den Bundesrechnungshof gilt: "Der Bundesrechnungshof ist eine Behörde im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 IFG."] Der Haushaltsausschuss des Bundestages führt die Wahrnehmung parlamentarischer Aufgaben an. Überall bleibt das Menschenrecht des Informationszugangs auf der Strecke. Die laut Bundesverfassungsgericht für die Demokratie notwendige Transparenz wird nicht erreicht.
Das Eisenbahn-Bundesamtes (EBA) schrieb am 7.9.2010, dass die Freigabe in finanzieller Hinsicht für die Neubaustrecke Stuttgart Ulm nicht erteilt (Anlage 2): "Aus der Erfahrung in anderen Projekten ist nicht zu erwarten, dass derart hohe Mehrkosten innerhalb der bestehenden Finanzierungsvereinbarung kompensiert werden können." Am 21.6.2011 lag der vollständige Antrag der DB Netz AG auf Baufreigabe der Neubaustrecke Wendlingen Ulm vor. Das EBA schrieb eine Empfehlung, das Bundesverkehrsministerium entscheidet. Am 31.10.2011 lag kein Ergebnis vor. Über die Fortschreibung wird vsl. erst im ersten Quartal 2012 entschieden.
Das Menschenrecht des Informationszugangs für Wähler und Volksvertreter wird in der zivilisierten Welt als Voraussetzung für Demokratie angesehen. Deshalb ist in Deutschland die Verabschiedung von Informationsfreiheitsgesetzen in Baden-Württemberg und 4 anderen Bundesländern notwendig. Außerdem muss das Informationsfreiheitsgesetz des Bundes verbessert werden. Akteneinsichtsanträge können also bisher nicht dazu benutzt werden um ein bisschen Demokratie zu verwirklichen und Licht in das Dunkel von Stuttgart 21 bringen.
Inzwischen haben ca. 90 Staaten mit mehr als 4,5 Milliarden Einwohnern Informationsfreiheitsgesetze (Anlage W). Info Europe und das Centre for Law and Democracy haben 89 Gesetzestexte analysiert. Dabei landet Deutschland mit 54 von 105 möglichen Punkte auf Platz 85, das heißt ganz am Schluss (Right to Information Rating: Anlage X), auch hinter den wirtschaftlich aufstrebenden BRIC-Staaten.. Nur Jordanien, Lichtenstein, Griechenland und Österreich schneiden schlechter ab, d. h. ca. 4,5 Milliarden Bürger auf der Welt haben besseren allgemeinen Informationszugang als deutsche Bürger.
Ca. 50 Staaten haben den Zugang zu Dokumenten der öffentlichen Verwaltung in der Verfassung verankert. Mehr als 115 Staaten (https://www.rti-rating.org/country-data/) mit mehr als 5,5 Milliarden Einwohnern haben entweder Informationsfreiheitsgesetz oder entsprechende Verfassungsbestimmungen. Damit sind Bürger in Baden-Württemberg und 5 Bundesländern bezüglich des Menschenrechtes des generellen Zugangs zu Dokumenten der öffentlichen Verwaltung (über den Anwendungsbereich von Verbraucherinformation und Umweltinformation hinaus) schlechter gestellt als 5,9 Milliarden Bewohner in der Welt.
Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg am 27.3.2011 haben eine Mehrheit für Grüne und SPD gebracht, die nun ein Informationsfreiheitsgesetz in Baden-Württemberg beschließen wird ohne wie bisher von der CDU daran gehindert zu werden. Der Koalitionsvertrag zwischen den Grünen und der SPD vereinbarte die Schaffung eines Informationsfreiheitsgesetzes. Damit wäre Baden-Württemberg das zwölfte Bundesland mit einem Informationsfreiheitsgesetz.
Innenminister
Gall hat angekündigt die Evaluation des
IFG des Bundes abzuwarten, die im März 2012 abgeschlossen wird. Auch
Bürger wurden dabei gefragt ihre
Erfahrungen mitzuteilen. Sollten die Landtagsabgeordneten das selber
machen wie im Bund und 5 Bundesländern?
Allerdings bleibt abzuwarten, ob dieses Informationsfreiheitsgesetz wirklich so bürgerfreundlich wird wie angekündigt. Die Erfahrungen mit dem Bundesgesetz sind schlecht und die Versprechen der Bahn und den Regierungen transparenter zu werden, Mitwirkung zu ermöglichen und damit mehr Demokratie verwirklichen sind bisher Absichtserklärung geblieben, die bisher nicht gelebt werden.
Hier wird das Elend des Informationszugangs in Deutschland illustriert: Wie sollen Abgeordnete die sich selber als Stimmvieh behandeln lassen, internationale Standards für Bürger durchsetzen?
Mehr als 20 Anträge auf Informationszugang als Akt zivilgesellschaftlicher Notwehr um ein bisschen Demokratie zu verwirklichen:
21.10.2011: Baut die Bahn schwarz an NBS Wendlingen Ulm oder ist das nur Desinformation der Wähler? Fortschreibung vsl. im ersten Quartal 2012.
11.04.2011: Sachstandsanfrage bezüglich des Widerspruchs vom 11.12.2010 Akteneinsicht Gutachten Neubaustrecke.
08.04.2011: Informationsfreiheit fehlt im Sechsten Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 40 des Zivilpaktes.
22.03.2011: Wann erfolgt die Freigabe der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm in finanzieller Hinsicht? (Eisenbahn-Bundesamt)
16.03.2011: Bringt Stuttgart21 das Menschenrecht des Informationszugangs nach Baden-Württemberg? (Ministerpräsident von Baden-Württemberg)
09.03.2011: Wann wird Bayern das Menschenrecht Informationszugang inkl. IFG einführen?
31.01.2011: Akteneinsicht in den Brief von Bundesrechnungshof (BRH) an den Haushaltsausschuss des Bundestages über Stuttgart 21 (Haushaltsausschuss).
26.01.2011: Informationszugang als Akt zivilgesellschaftlicher Notwehr um ein bisschen Demokratie zu verwirklichen (Gesetzesvorschlag).
19.12.2010: Wann wurde Baufreigabe für die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm erteilt? (Eisenbahn-Bundesamt)
15.12.2010: Schreiben des EBA vom 7.9.2010 über Baustopp. "Neubewertung der Nutzen-Kosten-Analyse der Neubaustrecke Wendlingen – Ulm" liegt nicht vor.
21.11.2010: Akteneinsicht beim Eisenbahn-Bundesamt: Warum wurde Neubaustrecke Wendlingen-Ulm gestoppt?
Im Internet publiziert:
Entwicklung:
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Anlage: Süddeutschland der Schandfleck bezüglich der Informationsfreiheit in Europa. Bild unten: Dunkelgrün: Informationsfreiheitsgesetz beschlossen. Hellgrün: Informationsfreiheit nur in Verfassung. Gelb: Gesetz in Vorbereitung. Access to Information Law = Informationsfreiheitsgesetz.